Ein Spaziergang durchs Viertel
Der Weg durch die Speicherstadt kann vieles sein: Er kann eine gelassene Schlenderei sein. Er kann zügiges Pflichtprogramm für Kreuzfahrttouristen sein oder alltäglicher Arbeitsweg. Er kann offenbaren, wie die Stadt sich selbst versteht oder wie die Menschen ihre Stadt verstehen: der Hafenbauingenieur, der jeden Tag in sein Büro in Block P geht und an die vielen Tausend in den Schlick gerammten Eichenpfähle denkt, auf denen die Speicher errichtet wurden. Oder der Architekt, der überlegt, ob er für die neuen Dächer Kupferplatten verwenden soll, die mit der Zeit oxidieren und mit den Jahren diesen charakteristischen Grünton annehmen, oder moderne Kupferplatten, die nicht mehr oxidieren, dann aber dauerhaft braun bleiben. Oder die Schulklasse aus Bergedorf, die lärmend vor dem Dungeon auf ihren Lehrer wartet, viele von ihnen zum ersten Mal „in der Stadt“. Die Familie aus Kiel, die endlich Zeit findet, um das Miniatur Wunderland zu besuchen.
Man stelle sich vor, wie die Hamburger vor 130 Jahren auf die neu errichtete Speicherstadt blickten: eine monumentale moderne Stadt in der Stadt, mit Stadttoren vor schweren Eisenbrücken, die über einen bewachten Stadtgraben führten, zu einem Areal mit eigenem Rathaus, eigener Stromversorgung, mit Türmchen und Erkern wie an mittelalterlichen Schlössern. Und man denke an denselben Blick über den Zollkanal heute: Umgeben von neuen, modernen Monumenten, überragt vom Glasaufbau der Elbphilharmonie, vom gläsernen Deichtorcenter, von den groben Dimensionen am Eingang zum Überseeboulevard, ist die Speicherstadt zusammengeschrumpft zu einer possierlichen Petitesse wie zur Kulisse in einer Modelleisenbahnwelt. Ein Spaziergang durch die Speicherstadt ist auch ein Weg durch die Zeit, durch Tag und Nacht wie durch Jahre und Jahrhunderte.
Nik Antoniadis ist freiberuflicher Journalist mit den Schwerpunkten Hamburger Stadtgeschichte, Stadtentwicklung und Reisen. Außerdem ist er Textchef bei der Agentur ELBE & FLUT.