Kein fließend Wasser, Außenklo
Hamburgs außergewöhnlichster Saisonarbeitsplatz ist auf einer 150 ha großen Insel im Wattenmeer. Seit 1947 leben im Sommer regelmäßig Vogelwärter auf Scharhörn—den Rest des Jahres ist die kleine Insel menschenleer. Ihr Job: Vögel zählen, (früher ebenfalls beringen) und beobachten; bis in die 1970er Jahre auch Eierdiebe fernhalten, heute zusätzlich gestrandeten Müll begutachten und Touristen führen.
Auf dem Dach des neuen Wohncontainers kann man an ganz klaren Tagen bis Helgoland sehen. Bei Flut sind es nur wenige Schritte zur Nordsee, und es brechen Teile der Insel ab. Gäste müssen sich anmelden und nach einer Stunde Aufenthalt schon vor der nächsten Flut wieder zurück. Scharhörn liegt mitten im Nationalpark Hamburgisches Wattenmeer und damit genau im Zentrum des Weltnaturerbes von Esbjerg bis Den Helder. Und Scharhörn ist ein Vogelparadies.
Naturschutzgebiet wurde die Insel schon 1939, seit 1990 liegt sie in der besonders geschützten Zone 1 des Nationalparks. Grund: Scharhörn ist einer der vogelreichsten Orte im gesamten Wattenmeer. 2019 beobachteten Vogelwärter insgesamt 168 Vogelarten—manche nur ein einziges Mal (Wiedehopf), andere zu Zehntausenden (Alpenstrandläufer, Knutt, Großer Brachvogel, Pfuhlschnepfe). 24 Vogelarten brüten hier, darunter seltene wie Rotschenkel und Sumpfohreule. Seit einigen Jahren haben mehrere hundert Eiderenten Scharhörn als Brutplatz entdeckt.
Der allererste Vogelwart kam 1938 nur kurz, dann die Wehrmacht, die eine Flakstellung errichtete und ab 1940 das Betreten der Insel verbot. Die Vogelwarte Helgoland setzte durch, dass wenigstens interessierte Soldaten Brutbestände erfassten. Sie bedienten sich aber auch großzügig an den Eiern von Silbermöwen und Seeschwalben. Die ersten offiziellen Vogelwärter von 1947 mussten erst einmal aufräumen. Von der zerstörten Flakstellung lagen überall Gerümpel, Stacheldrähte, gesprengte Bunkerteile und Glasscherben herum. Die Wohnhütten waren beschädigt, Wände und Dächer voller Löcher. Kochen fand zuerst auf offenem Feuer im Freien statt. Trotzdem ist das Tagebuch von Vogelwärterin Friederun Jannasch voll mit Einträgen wie diesem: ‚Durchs Watt zurück: viele helle Herzmuscheln im Seegras wie Blumen auf einer Sommerwiese, blaue Priele und die ersten Wolken seit fünf Tagen, hübsche kleine Kumuli, die vom Festland heraufziehen.‘
Ein normaler Vogelwärter-Tag sieht so aus: Je nach Wetter und Tide beim ersten Licht Singvögel und andere Arten beobachten und zählen, oft erst von drinnen, damit sie nicht sofort wegfliegen. Aufs Dach vom Container steigen und mit Fernglas und Spektiv (spezielles zweiäugiges Beobachtungsfernrohr) auf der Suche nach Enten, Gänsen, Kormoranen und Co weitermachen. In die Salzwiesen und Dünen, nach Elterntieren mit Jungen von versteckt brütenden Arten wie Eiderenten und Brandgänsen Ausschau halten. An der repräsentativen Zählstrecke Müll dokumentieren und auf der ganzen Insel sammeln. Eine Besuchergruppe führen. Die Daten des Tages abends online in Listen eintragen. Alle paar Tage das Gleiche auf der Nachbarinsel Nigehörn machen. Auf die Umgebung achten: Wann fangen welche Pflanzen zu blühen an? Wo arbeitet die Erosion besonders heftig?
Am meisten Übung und Geduld braucht das Zählen. Tauchen Wolken von Vögeln auf, ist das für neue Vogelwärter Stress pur. Der Trick ist, sich den Umfang, die Fläche von zehn Tieren am Rand einzuprägen, dann den ganzen Schwarm geistig durchzurastern und nach jeder Zehnergruppe das Zählwerk in der Hand zu drücken. Das Endergebnis mal zehn ergibt die Zahl der Vögel im Schwarm. Profis machen das mit wenigen Blicken in wenigen Sekunden. Nach ein paar Wochen sind aber auch die Neuen Profis.
Auf Scharhörn sind Vogelwärter auch Müllmänner. Angespülter Abfall wird dokumentiert, sortiert und entsorgt. Die Vogelwärter gehen regelmäßig ausgewählte Strandabschnitte mit Klemmbrett und Fragebogen ab—nicht alles ist Plastik, auch tote oder kranke Vögel oder Seehunde liegen im Sand. Größter Posten: Fischereiabfall. Gummistiefel, Handschuhe, aber vor allem Netzteile und -reste, die inzwischen als farbige Fäden in fast jedem zweiten angespülten Tangbüschel stecken. Bei einer Müllsammelaktion kamen 2016 auf Scharhörn und Nigehörn an einem Tag rund 1,6 Tonnen Abfall zusammen.
Wer sich für den Job bewirbt, muss zu allererst fit sein, denn allein der Weg nach Neuwerk, der größeren, bewohnten Nachbarinsel, dauert um die zwei Stunden pro Strecke. Dann ist Artenkenntnis gefragt: Wer die Graugans nicht vom Austernfischer unterscheiden kann, ist auf Scharhörn fehl am Platze. Weiterhin: Geduld. Hier richtet sich alles nach Wetter und Gezeiten—Kontakte, Arbeit, Transporte. Wer mit Einsamkeit Probleme hat, sollte an Scharhörn noch nicht einmal denken. Bei dichtem Nebel oder Sturm kann die Insel tagelang unerreichbar sein. Durchhaltevermögen ist wichtig: Ehrenamtliche arbeiten von Anfang April bis Ende Oktober, bis die letzte regelmäßige Fähre nach Cuxhaven fährt. Und man muss das einfache Leben mögen: Trinkwasser kommt in Kanistern, fließendes gab es noch nie. Die Kanister müssen von der Abladestelle fast einen halben Kilometer durch Dünen und feuchte Senken mit der Schubkarre zum Wohncontainer bugsiert werden. Das stille Örtchen ist ein Plumpsklo draußen. Gekocht, geschlafen, gewohnt und gearbeitet wird auf 48 m². Lebensmittel kommen alle zwei Wochen per Trecker oder wenn der Wattwagen Gäste bringt oder man holt sie sich—zu Fuß von Neuwerk.
Wer macht so etwas mit? Leute, die Vogelwärter auf Scharhörn sein wollen, haben sich in die Küste verguckt und möchten sie länger, pur und möglichst allein erleben. Ruhe, Weite, Natur, einmal etwas ganz Anderes machen können—das zählt am meisten. Viele nutzen die Monate im Watt als Auszeit zwischen Ausbildungs- und Berufsabschnitten. Früher waren fast nur Männer auf Scharhörn, heute sind es mehr Frauen. Die Interessierten werden jünger. Seit 1947 waren über hundert Vogelwärterinnen und Vogelwärter hier, 13 zwei Mal, einer sogar vier Mal. Sie kamen und kommen aus ganz Deutschland und ab und zu darüber hinaus. Am weitesten weg waren Heimatorte in Bayern und der Schweiz. Die Abbrecherquote ist gering, meint der Verein Jordsand, der die Vogelwärter seit Beginn aussucht, einstellt und betreut.
Die Faszination von Scharhörn ist, so sagen es alle, der totale Gegensatz—zu Großstadt, Routine, Enge, Hetze, leerem Himmel und bei manchen auch zu Hügeln und Bergen. Das gilt seit den ersten Vogelwärtern nach dem Krieg bis heute. Im August 1948 schrieb Vogelwärterin Friederun Jannasch: ‚Beim Rückweg in der Dämmerung leuchten Meer und Sand überall wo wir gehen, wir gehen wie mit Silberschritten, und die silbernen Spuren unserer Schritte bleiben noch eine kleine Weile hinter uns sichtbar. Märchenstrand.‘ In etwas anderer Sprache würden das auch heute noch ausnahmslos alle unterschreiben. Scharhörn ist Hamburgs außergewöhnlichster Saisonarbeitsplatz.