Kehrwieder: der Weg an die Spitze
Stellvertretend für diese Veränderungen in der Speicherstadt steht etwas, das für den Auswärtigen sicherlich unerwartet ist, dem Hamburger aber völlig vertraut war: afghanischer und iranischer Teppichhandel. Kaum ein Wirtschaftszweig wurde so lange und so sichtbar mit der Speicherstadt verbunden wie er. Tatsächlich ist er eine eher neue Erscheinung. Erst als die Containerwirtschaft früher prägende Handelsgüter wie Kaffee oder Getreide aus den Speichern verdrängt hatte, wurde die Speicherstadt in den 1980ern zum weltgrößten Umschlagsplatz für Orientteppiche; über die Hälfte der alten Speicher wurde von Teppichhändlern genutzt. In den Jahren des Wirtschaftswunders hatte die Nachfrage nach Teppichen kräftig angezogen. Wer auf alten Holzdielen und in schlecht beheizten Wohnungen aufgewachsen war, sah nun im Teppich, und ganz besonders im „echten Perser“, bürgerliche Wohnkultur auf höchstem Niveau. Die Stadt Hamburg ist zwar noch immer das größte Orientteppichlager der Welt, aber die meisten Händler und Importeure haben sich inzwischen andere Standorte gesucht und Agenturen und Dienstleistern Platz gemacht, die nun die Speicherstadt bevölkern.
Was immer die Zukunft bringt: Der Orientteppich und der Umschlagsplatz Speicherstadt haben sich an zwei Hamburger Orten auf außergewöhnliche Weise verewigt. In der Moschee der iranischen Gemeinde an der Alster liegt ein Geschenk der Knüpfergenossenschaft – der größte handgeknüpfte Rundteppich der Welt. Er hat einen Durchmesser von 16 Metern und wiegt eine Tonne. Insgesamt haben 22 Knüpferinnen daran drei Jahre gearbeitet.
Ein anderer einmaliger Teppich liegt auf der Wilhelminenbrücke an der Schnittstelle zwischen Neustadt, HafenCity und Speicherstadt aus. Er ist 27 Meter lang und wiegt anderthalb Tonnen – würde man ihn anheben können. Der Künstler Frank Raendchen hat ihn 2005 aus Stein fest auf der Brücke installiert. Auch er ist zu 100 Prozent handgemacht.
Nur wenige Schritte entfernt liegt einer jener Orte, der in Hamburg einen beinahe mythischen Klang hat: die Kehrwiederspitze. Wer dabei an junge Deerns denkt, die hier am Elbufer stehen und ihren Matrosen tränengetränkte Taschentücher hinterherwinken, liegt aber falsch: Die Straße heißt Kehrwieder, weil sie eine Sackgasse war und jeden, der sie bis zum Ende ging, schließlich zur Umkehr zwang. Wer heute am Ende seines Spaziergangs hier angelangt, für den ist das aber auch nicht die schlechteste Aussicht.
„Ein Spaziergang durchs Viertel“ ist ein Auszug aus dem QUARTIER Themenheft No.1 Kulturdenkmal SPEICHERSTADT, erschienen im Juni 2019.
E&F Edition / Junius Verlag
ISBN 978-3-96960-519-5